Der seltsame Moment der Ungeduld
Letzte Woche sprach ich mit einer Oberärztin aus einem größeren Krankenhaus in der Region. Sie erzählte von einem Patienten, der seine Laborwerte online einsehen wollte – eine ganz normale Anfrage. Das System konnte sie bereitstellen. Das Krankenhaus konnte sie bereitstellen. Aber es dauerte drei Tage, bis alles rechtlich abgesichert, dokumentiert und freigegeben war. Der Patient hätte die Ergebnisse schneller selbst googeln und interpretieren können als ein Algorithmus brauchte, um zu entscheiden, ob das erlaubt ist.
Das ist nicht Mangel an Technologie. Das ist Mangel an Mut, sie zu nutzen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen ist ein seltsames Phänomen in Deutschland. Überall hört man von revolutionären Systemen, KI-gestützter Diagnostik, dezentraler Datenverwaltung. Und doch funktioniert der Alltag in Kliniken vielerorts noch wie vor zwanzig Jahren: Faxgeräte neben modernen Workstations. Papierakten in digitalisierten Prozessen. Patienten, die zwischen Systemen navigieren müssen, die nicht miteinander reden.
Der Grund liegt weniger an der Technologie selbst als an der Art, wie wir sie einführen – und vor allem: wie wir sie nicht einführen.
Die asymmetrische Realität
Das Bundesgesundheitsministerium hat in den letzten Jahren massive Investitionen angekündigt: Telematikinfrastruktur, ePA (elektronische Patientenakte), E-Rezept, Telemedizin. Auf dem Papier ist Deutschland führend. In der Praxis zeigt sich ein anderes Bild.
Die Digitalisierung deutscher Kliniken verläuft extrem fragmentiert. Ein großes Universitätsklinikum in München hat längst Cloud-basierte Systeme. Ein Kreiskrankenhaus im Rhein-Main-Gebiet kämpft noch damit, verschiedene Abteilungen miteinander zu verbinden. Laut Handelsblatt sparen deutsche Kliniken paradoxerweise an ihrer digitalen Zukunft – nicht weil Geld fehlt, sondern weil Investitionen im Einzelfall komplex sind und der ROI unklar bleibt.
Das führt zu einer absurden Situation: Patienten erwarten Smartphone-Banking-Standards bei ihrer Gesundheitsverwaltung. Ärzte nutzen noch Printouts, weil die Schnittstellen nicht funktionieren. Und Systeme tauschen Daten aus, aber keiner prüft, ob das medizinisch sinnvoll ist.
Wenn Menschen langsamer sind als Maschinen
Hier greift ein Post-Digitalisierungs-Paradoxon: Je besser die Technologie wird, desto mehr scheitert sie an der menschlichen Entscheidung.
Ein Algorithmus kann in Millisekunden Tausende Röntgenaufnahmen analysieren und Anomalien erkennen. Aber ein Mensch braucht Minuten, um zu entscheiden, ob dieser Algorithmus vertrauenswürdig genug ist. Ein KI-System kann aus Patientendaten Risiken prognostizieren – aber wer trägt die Verantwortung, wenn die Prognose falsch ist? Der Arzt? Das System? Das Krankenhaus?
Die Geschwindigkeit der Technologie prallt auf die Verlangsamung durch Haftung, Regulierung und Skepsis. Und das ist nicht grundsätzlich falsch. Im Gegenteil: Im Gesundheitswesen sind Vorsicht und Prüfung überlebenswichtig. Das Problem ist nur, dass diese Vorsicht oft nicht proportional zur Risiken ist.
Die KI-Nutzung in Praxen und Kliniken nimmt zu, aber sie ist oft ein Insellösung statt eines Systems. Ein Krankenhaus nutzt KI für Terminplanung, ein anderes für Diagnostik – aber keiner denkt darüber nach, wie diese Systeme zusammenspielen könnten.
Der regionale Knoten
Hier wird es interessant für Orte wie das Rhein-Main-Gebiet: Digitalisierung im Gesundheitswesen funktioniert besser als Netzwerk-Problem, nicht als Einzellösung.
Statt dass jedes Krankenhaus allein sein IT-System aufrüstet, könnte die Region gemeinsame Infrastrukturen aufbauen. Ein gemeinsamer Datenspeicher für Patientenakten. Ein zentrales System für Spezialist-Weiterleitungen. Gemeinsame KI-Modelle für Diagnostik, die von mehreren Kliniken trainiert und genutzt werden – so wie es die Industrie mit Produktionsplattformen tut.
Das ist nicht Science Fiction. Das ist das Modell, das in anderen Industrien längst Standard ist. Ein Autohersteller baut nicht jedes Werk einzeln auf. Ein Mittelständler teilt sich Maschinen mit Konkurrenten statt diese einzeln zu kaufen. Warum sollte das im Gesundheitswesen anders sein?
Das Problem ist kulturell, nicht technisch. Krankenhäuser konkurrieren um Patienten. Sie wollen nicht ihre Daten teilen, weil sie Kontrollverlust fürchten. Ärzte fürchten um ihre Unabhängigkeit. Administrationen sehen rechtliche Gräben. Und so wird jede Klinik zur Insel – mit allen Ineffizienzen, die das mit sich bringt.
Der Mut zum fragmentierten Fortschritt
Echte Digitalisierung im Gesundheitswesen braucht einen anderen Ansatz: pragmatische Schritte statt totaler Umbau.
Das bedeutet konkret: Mit den Systemen anfangen, die sofort Sinn machen. Telemedizin für Routinekontrollen. Digitale Terminplanung, die nicht nur die Buchung optimiert, sondern auch die Auslastung. Elektronische Verschreibung, die wirklich funktioniert, nicht nur auf dem Papier. Patientenportale, die nicht nur Informationen zeigen, sondern auch Entscheidungen ermöglichen.
Es bedeutet auch: Cybersecurity nicht als IT-Aufgabe, sondern als Kulturaufgabe zu verstehen. Ein gehacktes Krankenhaus ist nicht nur ein IT-Problem – es ist ein medizinisches Notfall. Das kann nur funktionieren, wenn die Sicherheit von oben gewünscht wird.
Und es bedeutet: Mut zur Unvollkommenheit. Ein System, das zu 80% funktioniert und wirklich eingesetzt wird, ist besser als eines, das zu 100% perfekt ist und keiner nutzt.
Die Rolle von KI – und ihre Grenzen
KI wird oft als Lösung für alles präsentiert. Und ja, in bestimmten Bereichen ist sie genuinely wertvoll: Bildverarbeitung in der Radiologie, Auswertung großer Datenmengen für Epidemiologie, Unterstützung bei der Diagnose von seltenen Krankheiten.
Aber KI ist kein Ersatz für ärztliche Urteilskraft. Ein Algorithmus kann „verdächtig“ sagen. Ein Arzt muss entscheiden, ob es verdächtig genug ist, um zu handeln. Und diese Entscheidung ist nicht datengetrieben – sie ist existenziell. Sie basiert auf Intuition, Erfahrung, ethischen Überlegungen.
Das bedeutet: KI-Systeme in der Medizin brauchen nicht weniger menschliche Beteiligung, sondern bessere. Ein System sollte nicht Ärzte ersetzen, sondern ihnen ermöglichen, schneller und sicherer zu arbeiten. Der Algorithmus als Kollege, nicht als Chef.
Netzwerk statt Silos
Die Untermain-Region hat hier eine Chance, die größere Flächenländer nicht haben: Distanzen sind kurz. Kooperationen zwischen Kliniken, Praxen, Universitäten sind möglich. Eine gemeinsame Infrastruktur für regionale technologische Netzwerke im Gesundheitswesen könnte zum Modell für ganz Deutschland werden.
Das würde bedeuten: Kleinere Kliniken müssen nicht einzeln KI-Systeme kaufen, sondern können auf regionale Services zugreifen. Patienten erhalten konsistente Daten, egal wo sie behandelt werden. Ärzte kooperieren schneller, weil die technischen Barrieren fallen. Und forschungsbasierte Verbesserungen – welche neuen Algorithmen funktionieren wirklich – können lokal getestet und dann skaliert werden.
Das ist nicht utopisch. Das ist das, was post-digitale Organisationen ohnehin tun – es nur bewusst zu machen, für den Gesundheitssektor, wäre revolutionär.
Das menschliche Ende der Gleichung
Am Ende – und das ist keine Sentimentalität – ist Digitalisierung im Gesundheitswesen nur erfolgreich, wenn sie die Beziehung zwischen Arzt und Patient verbessert, nicht nur die Prozesse optimiert.
Ein Patient, der seine Laborwerte drei Tage später sieht, aber dafür eine Mail bekommt, in der sein Arzt die Ergebnisse in verständlichen Worten erklärt, hat mehr davon als ein Patient, der sofort auf rohe Daten zugreift, diese aber nicht interpretieren kann. Ein Arzt, der durch Administratives entlastet wird und dafür mehr Zeit für echte Gespräche hat, leistet bessere Medizin als einer, der von neuen Systemen überwältigt wird.
Digitalisierung ist ein Mittel, kein Zweck. Im Gesundheitswesen sind die Ziele klar: Menschen gesünder machen. Leben retten. Leiden lindern. Wenn Technologie das ermöglicht, ist sie wertvoll. Wenn sie im Weg steht, muss sie weg.
Die Frage ist nicht: Wie digitalisieren wir das Gesundheitswesen? Die Frage ist: Wie nutzen wir Digitalisierung, um bessere Medizin zu praktizieren?
Und darauf müsste die Antwort schneller kommen als in drei Tagen.